Wirksame Gestaltungsprinzipien für komplexe Veränderungsprozesse

Warum die Klärung von Prinzipien der wichtigste Schritt in Change- und Transformationsprozessen ist

Wenn es um den Umgang mit komplexen Veränderungsprozessen geht, zeichnet sich in vielen Unternehmen und Institutionen ein Trend ab: Sie setzen stärker auf Einbeziehung und Selbstorganisation. Gleichzeitig fokussieren sie darauf, die Anpassungsfähigkeit der Organisation zu stärken. Veränderungsdruck, Umbruch und Wandel werden ganzheitlicher betrachtet.

Die Frage, wie sich Change-Herausforderungen bei unterschiedlichsten Kund:innen in den vergangenen Jahren verändert haben und wie sich das auf die Gestaltung von Change- und Transformationsprozessen auswirkt, hat uns in den vergangenen Monaten im Rahmen verschiedener Treffen mit Organisationsentwickler:innen und Berater-Kolleg:innen immer wieder beschäftigt. Das Bild, das sich geformt hat, ist keines, dass eine eindeutige Antwort bereithält. Anlässe und auch Versuche der Typologisierung von Change-Prozessen bleiben vielfältig. Abgestimmt auf den jeweiligen Kontext unterscheiden sich die Angänge und Methoden für die Prozessgestaltung. Der konkrete Angang bleibt immer kontext- bzw. kundenspezifisch. Mit wachsender Vielzahl und Vernetzung unterschiedlicher Veränderungsprozesse zeichnet sich in vielen Unternehmen und Institutionen ein Trend ab: Sie setzen stärker auf die Einbeziehung und die Selbstorganisation sowie darauf, die Anpassungsfähigkeit der Organisation zu erhöhen. Veränderungsdruck, Umbruch und Wandel werden ganzheitlicher betrachtet. Die ganze Organisation ist auf der Reise mit unterschiedlichen Prozessen, Zeitmustern, Überraschungen und Konflikten. Organisation ist Veränderung und Veränderung ist Organisation. Das lässt sich nicht mehr zentral steuern – zumindest nicht schnell genug. Dazu kommt, dass auch das Wissen vor Ort, aus dem Kunden- und Marktkontakt möglichst in Echtzeit ausgewertet und genutzt werden muss. Managementkonzepte, die auf Durchsetzungsstärke Top-down setzen, sind deshalb längst fragwürdig.

NEUE HERAUSFORDERUNGEN UND ÜBERHOLTE MANAGEMENTILLUSIONEN

Change-Prozesse nach Wasserfall-Logik zu „managen“ gilt aktuell erst recht nicht. Es geht um schnelle Reaktions- und Anpassungsfähigkeit, die ein anderes Management erfordern: kleinere, dafür schnellere Entscheidungen, Ausprobieren von Lösungen und daran Lernen, Verteilung von Führung und Verantwortungsübernahme vor Ort. Spätestens seit der Corona-Pandemie ist deutlich geworden, wie schnell sicher geglaubte Annahmen über das Funktionieren von Zusammenhängen und Wirkfaktoren ins Wanken geraten können. Die Vielfalt der Herausforderungen, die aktuell auf Organisationen einwirken – von Megatrends wie etwa demographischer oder Klimawandel bzw. Digitalisierung über aktuelle Herausforderungen wie der Zusammenbruch globaler Lieferketten, Energiekrise, Inflation, Kriege und neue geopolitische Konstellationen – verändern die Prämissen, mit denen wir bisher unterwegs waren. Es steht somit keine einzelne Herausforderung im Mittelpunkt, sondern der Umgang mit einem ganzen Bündel von Herausforderungen, die zusammen genommen oft disruptiven Charakter haben und nicht selten komplette Geschäftsmodelle und Entwicklungen obsolet machen.

Dass Krisen ihrerseits auch eine Chance darstellen und als Beschleuniger für aktive Veränderungen in Organisationen dienen können, wird spätestens dann deutlich, wenn man betrachtet, wie stark sich die Zusammenarbeit seit Corona verändert hat. Virtuelle und hybride Formen der Zusammenarbeit haben sich in vielen Unternehmen fest etabliert. Der Mythos, dass solche Veränderungen grundsätzlich langwierig sind und oft scheitern, hat schon immer eher den Steuerungsanspruch des Managements bedient und Beratungen groß gemacht.

Traditionelle Change-Ansätze von Lewin bis Kotter1, in denen Stufenmodelle einen klaren Weg zum Ergebnis suggerieren, haben über viele Jahre das Verständnis von Change-Management geprägt und tun es vielfach noch heute. Für Change-Prozesse, die einen geringen Grad an Komplexität haben und in Märkten mit hoher Stabilität und Organisationen, in denen das Management noch stark nach einem traditionellen Steuerungsdenken agiert, mögen sie als Landkarten weiterhin hilfreich sein. Immerhin vermitteln sie ein Bild, das Übersicht schafft und Planbarkeit suggeriert.

Unternehmen sind mit Projekten überlastet, werden nicht fertig und alle wissen es. Das mag im Einzelnen nicht kritisch sein, aber es fördert die Kultur der Unverbindlichkeit und Inkonsequenz gegenüber dem nicht Schaffbaren

Es zeigt sich allerdings immer wieder, dass der reale Prozess am Ende anders aussieht. Und trotzdem wird in vielen Fällen dieses Schema weiter bedient, auch wenn es nicht passt: Planungsdenken hier und betriebliche Realität dort. Unternehmen sind mit Projekten überlastet, werden nicht fertig und alle wissen es. Das mag im Einzelnen nicht kritisch sein, aber es fördert die Kultur der Unverbindlichkeit und Inkonsequenz gegenüber dem nicht Schaffbaren. Agile Ansätze setzen aber gerade darauf: Die Fachleute füllen die vereinbarten Zeitgefäße mit dem realistisch Machbaren und diskutieren in schnellen Loops, wie der Weg sinnvoll weiter gestaltet werden kann. Der Prozess lebt nicht aus dem Plan, sondern aus der Realität. Unabhängig davon hat man es immer mit komplexen sozialen Systemen und Prozessen zu tun. Aber diese funktionieren nicht nach dem Prinzip, dass eine bestimmte Aktion immer ein und dasselbe Ergebnis produzieren wird.

Höherer Komplexität begegnen heißt mehr Selbstorganisation ermöglichen

In unserem Erleben greifen die alten Modelle und Landkarten vor allem dann zu kurz, wenn Komplexität und Dynamik hoch sind. Das ist immer dann der Fall, wenn wir von komplexen Veränderungsprozessen oder Transformationsprozessen sprechen2. Beide zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht isoliert stattfinden, sondern parallel und vernetzt mit anderen Veränderungsinitiativen. Die Umfeldbedingungen, in denen sie stattfinden, sind ebenso hoch komplex wie dynamisch und lassen immer weniger Planbarkeit zu. Lösungsmuster aus der Vergangenheit oder aus Erfahrungen abgeleitete Prognosen greifen nicht mehr.

Die meisten Prozesse, denen wir aktuell in unserer Praxis begegnen, passen genau in diese Kategorien. Die Wechselwirkungen, die sie prägen, werfen gleichzeitig Fragen auf strategischer, kultureller und struktureller Ebene auf bzw. fordern diese ein. Hier ist ein systemisch-ganzheitliches Denken gefragt. Umwelt, Strategie, Strukturen, Prozesse und Kultur systemisch-ganzheitlich zu betrachten, ist Ziel eines Ansatzes für Organisationsanalyse und -design, den wir im Whitepaper „Spotting Misftits“ – Ein ganzheitlicher Ansatz für Organisationsanalyse und Organisationsdesign“ vorstellen.

Dynamik und Komplexität bedeuten nicht, dass Pläne nicht mehr hilfreich sind. Sie sind wichtig, aber sie werden unter der Prämisse erstellt, dass sie nur auf Zeit gelten und regelmäßig erneuert werden. Entscheidungen werden für zwei Wochen oder zwei Monate getroffen, um dann den Weg neu zu überprüfen, Gelerntes und Unvorhersehbares zu berücksichtigen. Das ist auch ein Plan, der der wachsenden Komplexität mit absichtsvoller, hoher Agilität begegnet.

Unter den oben beschriebenen Bedingungen braucht es aus unserer Sicht einen holistischeren und iterativeren Ansatz, der stärker auf Prinzipien der Selbstorganisation basiert. Selbstorganisation bedeutet für uns an dieser Stelle keineswegs ein komplettes Auflösen von Führung. Orientierung, Rahmen und Regeln sind für ein Funktionieren von Selbstorganisation unerlässlich. Es geht darum, in einem Veränderungsprozess einen Rahmen zu schaffen, der zu (Mit-) Gestaltung einlädt und über die Nutzung der kollektiven Intelligenz und eine angemessene Einbindung des Systems bessere Voraussetzungen für einen produktiven Umgang mit der Gesamtkomplexität schafft. Dabei kann keine Stabilität und keine Lösung versprochen werden, weil vieles erst auf dem Weg hinzugelernt wird und die Umwelt sich parallel weiter verändert. Versprechen kann man nur Transparenz und Kommunikation über neue Entwicklungen, Fragen, Ideen, Bedenken und Entscheidungen. Diese Versprechen zu halten, ist allerdings unverzichtbar. Und darauf müssen sich auch vertrauensbildende Führung, kollaborative Meeting-Strukturen und eine dynamische Steuerung des Prozesses ausrichten. Die im Folgenden beschriebenen agilen Ansätze zahlen genau darauf ein.

AUS DEN AGILEN ANSÄTZEN LERNEN

In unserer Wahrnehmung sind in vielen Unternehmen und Institutionen schon wichtige Voraussetzungen geschaffen worden, um die Veränderungsfähigkeit zu erhöhen. Dazu gehören die Einführung dynamischer Organisationsmodelle, agile Skalierungsframeworks wie SAFe®, moderne Strategieframeworks und Steuerungsmodelle wie OKRs (Objectives und Key Results) oder agile Zusammenarbeitsansätze wie Scrum. All diese Ansätze bieten Instrumente, die auf ein iteratives Vorgehen einzahlen, und halten nützliche Formate bereit, die auch im Kontext von Change- und Transformationsprozessen wirksam sind. Als Beispiel seien hier nur Retrospektiven als Lern- und Feedbackformat genannt oder auch Meetingformate wie das holakratische Governance-Meeting. Beide Formate können nicht nur im Prozess eingesetzt werden, sondern eignen sich auch dafür, die Anpassungs- und Lernfähigkeit der Organisation auf Dauer zu unterstützen, indem sie die kontinuierliche Arbeit am System ermöglichen.

Prinzipien sind als Grundbausteine von Organisation und Veränderung von fundamentaler Bedeutung und deshalb noch vor Prozessen und Strukturen zu klären, denn auch diese sollten Prinzipien folgen

PRINZIPIEN ALS GRUNDLAGEN DER GESTALTUNG

Im Zusammenhang mit der stärkeren Nutzung agiler Formate als wichtige Inspirationsquelle für den Umgang mit komplexen Veränderungsprozessen haben sich für uns einige Grundprinzipien bewährt. Prinzipien sind als Grundbausteine von Organisation und Veränderung von fundamentaler Bedeutung und sind deshalb vor Prozessen und Strukturen zu klären, denn auch diese sollten den Prinzipien folgen. Oft werden deshalb auch Design- und Verhaltensprinzipien unterschieden. Als 'Verhaltensprinzipien' sind sie die vereinbarten 'Spielregeln' für die verlässliche Zusammenarbeit und Führung auf der gemeinsamen Reise; sie schaffen damit auch die Bezugspunkte für wertschätzendes, persönliches Feedback. Als 'Designprinzipien' bestimmen sie maßgeblich die Gestaltung von Prozessen, Strukturen, Rollendefinitionen und Instrumentarien, die neues Verhalten effektiv unterstützen. In unserer Praxis haben sich folgende Prinzipien dabei besonders bewährt:

 

  1. Orientierungsrahmen setzen – Richtung geben durch Klarheit mit Blick auf die zentralen Aspekte des Zukunftsbilds und einen Zielkorridor mit ausreichend Raum zur Ausgestaltung und Anpassung schaffen
  2. Autonomie stärken – Selbstorganisation stärken und Menschen dabei unterstützen, an ihre Talente zu glauben und diese einzubringen
  3. Ergebnisoffenheit anlegen – Anpassungen von Beginn an mitdenken und zulassen
  4. Gegenwartsfokus betonen – Blick auf die Gegenwart, um Situationspotentiale zu nutzen und über kleine Interventionen das System zu bewegen
  5. Multiperspektivität nutzen – Kraft und Vielfalt unterschiedlicher Blickwinkel nutzen, indem rollenbezogene und vielfältige Perspektiven eingebracht und integriert werden können
  6. Transparenz schaffen – Mut zu radikaler Transparenz und Offenheit
  7. Experimentieren unterstützen – Prototypen, Simulationen und Testläufe nutzen, um die Passung und Wirksamkeit von Lösungen zu verproben
  8. Co-Kreation leben – Nutzen der kollektiven Intelligenz für die Gestaltung von gemeinsam getragenen Lösungen, damit gemeinsam getragene Lösungen entstehen
  9. (Selbst-)Beobachtung fördern – Reflexionsformate und Feedback-Loops anlegen, um das System zu beobachten und Anpassungen vorzunehmen
  10. Spannungsbasiert arbeiten - Psychologische Sicherheit schaffen, um Mitarbeitende zu ermutigen, Fehler und Spannungen als Quelle für Weiterentwicklungspotentiale aktiv einzubringen und zu nutzen

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Die Stärke dieser erfahrungsbasierten Prinzipien liegt nach unserem Erleben darin, dass sie Systeme und Menschen darin stärken, die Anpassungsfähigkeit zu erhöhen und mit Veränderungen gestaltend umzugehen. Sie schaffen Raum für Mitgestaltung. Man wird nicht verändert, sondern ist aktiver Mitwirkender in der Veränderung. Und wenn es der Führung gelingt, den Raum für einen solchen Prozess zu halten und sich mutig auf Selbstorganisation, Iteration und Ergebnisoffenheit einzulassen, dann gelingt der Change oder Transformationsprozess und die Organisation steigert ihre Anpassungsfähigkeit

 

BEDEUTUNG DER PRINZIPIEN FÜR VERANTWORTUNGSVOLLE BERATUNG

Wichtig dabei ist aus unserer Sicht, die Auseinandersetzung mit solchen Prinzipien explizit zu einem Thema der Prozessgestaltung zu machen und eine Verständigung darüber zu finden – zum Start eines Prozesses und immer wieder im Sinne der Reflexion im Prozess selbst. Fragen können dann z. B. sein: Was bedeuten diese Prinzipien für uns? Welche Prinzipien fehlen noch? Was passt in dem spezifischen Kontext und was nicht? Was funktioniert und was nicht?

Beraterische Unterstützung zielt nach diesem Verständnis vor allem darauf, Perspektiven zu integrieren und Lösungspotentiale in der Organisation zu aktivieren3. Sie fördert Multiperspektivität und die gemeinsame Verständigung im Unternehmen über den Weg, die Begriffe, die Fragen und Lösungsideen. Im Kern geht es immer darum, den jeweils eigenen Weg für das Kundensystem co-kreativ zu modellieren, weil das immer effektiver ist, als es sich mit dem Kopieren von Best Practices leicht zu machen.

 

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Detlev Trapp ist Gründer und Gesellschafter von cidpartners.

Detlev Trapp

Gesellschafter

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1 Stouten, J., Rousseau, D. M., & Cremer, D. de (2018). Successful organizational change: Integrating the management practices and scholarly literature. Academy of Management Annals, 12, 752–788.

2 Die Unterscheidung von Transformation, Transition, Change, Entwicklung etc. wird vielfach theoretisch beschrieben. In der Praxis kann es effektiver sein, im Unternehmen zu klären, welcher Begriff zweckmäßig erscheint und was er bedeuten bzw. nicht bedeuten soll. Das ist auch eine hoch effektive Klärungssituation zusammen im Führungskreis oder mit den Mitarbeitenden am Anfang eines gemeinsamen Weges.

3 Weiterführende Literatur findet sich auf unserer Website unter Inspiration. Eine reiche Inspirationsquelle bietet auch das aktuelle Buch des Kollegen Frank Kühn: Unternehmen agil entwickeln. Hanser 2022.