Mehr Selbstorganisation für eine
digitalisierte Welt – ein Plädoyer

Lassen Sie sich nichts erzählen!

Die Welt wird nicht komplexer. Es ist unsere Reaktion darauf – unsere soziale Welt – die immer komplexer wird, und infolgedessen unsere Kultur, unsere Technik und deren Wechselwirkung. Wer heute über diese komplexer werdende Technik und ihre kulturelle Bedeutung spricht, der verwendet oft Begriffe wie ‚Digitalisierung‘ oder ‚Digitale Transformation‚.

Ganz Hellsichtige sprechen angesichts der rasanten technischen Entwicklung direkt vom Schreckensszenario der Singularität, in dem die Technologie, die wir geschaffen haben, uns in unserer Intelligenz übertrumpft und als höchste ‚Lebensform’* auf dem Planeten ablöst. Etwas drastisch, aber ein gutes Beispiel für ein generelles Problem: Digitale Transformation wird oft als etwas Externes beschrieben – als etwas, das mit uns etwas macht – und so wirkt die Welt doch plötzlich wieder ganz schön komplex. Wir armen.

Wenn wir aber eine Perspektive einnehmen, in der wir nicht die Opfer der Digitalisierung sind, sondern auch die Treiber und Nutznießer – beides ist wahr – dann stellt sich die Frage, warum sollten wir aktiv Digitalisierung vorantreiben? Na, weil wir dadurch mehr Möglichkeiten erhalten.

Komplexität Marke Eigenbau

Diese Frage und die Antwort darauf scheinen banal, aber lesen Sie aktuelle Literatur zu dem Thema einmal mit diesem Blick und Sie werden überrascht sein. Das Bild einer übermächtigen Digitalisierung die alles ‚disruptiv‘ durcheinanderwirbelt ist allgegenwärtig. Angstszenarien unbezwingbarer Technik verkaufen sich gut. Doch das ist nur eine Wahrheit. Die andere Wahrheit ist: diese VUKA-Welt entsteht nicht zufällig, sondern wir erschaffen sie bewusst. Volatilität, Ungewissheit, Komplexität und Ambiguität sind der Preis, den wir gerne zahlen für eine Welt, in der alles möglich scheint. Mehrung der Wahlmöglichkeiten, des Wissens, der Einflussmöglichkeiten und letztlich der Freiheit durch technologischen und kulturellen Fortschritt – das war immer der Traum. Was sehr philosophisch klingt, hat eine direkte alltägliche Implikation: Wer glaubt, die digitale Transformation sei etwas, das von außen kommt, kann sie nicht nutzen. So wird das Schreckgespenst der disruptiven, Geschäftsmodelle fressenden Digitalisierung dann doch noch im Sinne einer selbst-erfüllenden Prophezeiung traurige Realität – für einige.

Nur ein bisschen dynamischer?

Für andere ist klar, dass diese Veränderungen aktiv zu nutzen unglaubliches Potential birgt. So entsteht der berechtigte Wunsch dieser Komplexität zu begegnen, ohne die erreichten etablierten Ordnungsmuster gefährden zu müssen. Diese etablierten Ordnungsmuster sind die Organisationen, wie wir sie heute leben und sie sind die in Organigramme gegossenen Erfolgsmuster vergangener Tage. Die Organisation soll deshalb im Wesentlichen so bleiben wie sie ist – es ist ja scheinbar die von außen kommende Komplexität, die das Problem ist, nicht die Organisation selbst. Es ist ja nicht alles schlecht, was starr scheint. Es soll eben nur ein bisschen dynamischer werden. Infolgedessen erfreuen sich standardisierte Ansätze, die ein Gefühl für Dynamik vermitteln immenser Beliebtheit. Sei es Design Thinking, Scrum oder andere agile Methoden, sie alle versprechen über eine Flexibilisierung nach Plan Dynamik in Unternehmen zu bringen, ohne diese grundlegend zu ändern. Oder zumindest versprechen sich Berater und Unternehmen dies. Die Hoffnung ist, mit einer gesteigerten Dynamik eine bessere Fähigkeit zum Umgang mit Komplexität zu entwickeln und diese Hoffnung ist realistisch. Agile Methoden alleine sind aber keine Allheilmittel gegen Strukturen und Paradigmen, die der neuen sozialen, kulturellen und technologischen Realität nicht mehr gerecht werden. Wir brauchen nicht einfach mehr von neuen Methoden, sondern eben auch weniger von alten – bisher sinnvollen – Strukturen, damit Platz für das Neue entstehen kann.

Organisationsformen von heute sind die Erfolgsmuster von gestern…

…zu denen es noch keine Alternativen gibt. Heutige Organisationen sind Erfolgsmuster, die aus einer natürlichen Selbstorganisation heraus entstanden sind, um diese erfolgreichen Prozesse zu erleichtern. Am Anfang stand meistens ein Mensch mit einer Idee – die Organisation kam später. Gleichzeitig stützte die entstehende Organisation aber die Weiterentwicklung dieser Idee. So hat bspw. Henry Ford, der ja quasi der Inbegriff der frühen industriellen Fertigung und stark arbeitsteiliger Organisationsformen ist, erst einmal sechs Jahre an seinem Quadricycle getüftelt, bevor er 1899 die Detroit Automobile Company bildete. Umgekehrt stützten die von ihm eingeführten Organisationsformen die weitere Entwicklung hin zum berühmten Modell T, dessen Erfolg ohne die neue Art der Organisation nicht möglich gewesen wäre.

Woher kommt die Organisationsstruktur für die digitale Welt?

Organisationsstrukturen sind ganz offensichtlich sinnvoll. Deshalb fällt es auch extra schwer, diese alten Strukturen zu überwinden. Die Frage, woher die neuen Erfolgsmuster für die modernen Anforderungen einer digitalen Welt kommen sollen, scheint unbeantwortet. Ansätze wie bspw. Holacracy sind zwar vielversprechend aber konnten ihre Versprechen bisher nicht einlösen. Woher kommt sie also, die neue Organisationsstruktur der Zukunft? Ich denke die Antwort lautet: aus der allgegenwärtigen Selbstorganisation der Organisation. Diese selbstorganisierenden Prozesse sind immer da. Sie halten das Unternehmen am Laufen, schaffen, bestätigen und adaptieren Strukturen und Abläufe – jedes Mal, wenn Mitarbeiter Probleme identifizieren, auf die es keine Lösung zu geben scheint, und diese lösen. Das was dann entsteht, ist vielleicht nicht DIE neue Organisationsstruktur per se, aber EINE neue Organisationsstruktur.

Selbstorganisation – Der Weg zu neuen Ordnungsmustern

Selbstorganisation zu stärken, um neue Ordnungsmuster zu finden, die die alten sicher ablösen, bedeutet in erster Linie nicht, mehr Selbstorganisation zu ‚machen‘, sondern es bedeutet bestehende Selbstorganisation weniger zu verdrängen – also sie zuzulassen. Klassische Unternehmensstrukturen beschneiden die Möglichkeit ihrer Mitglieder oft in ihrem Handlungsspielraum mit dem Ziel von Effizienzgewinnen. Manchmal funktioniert das, manchmal nicht, aber immer geht ein natürlicher Impuls zu Selbstorganisation verloren. Menschen handeln meistens erst nach sozialen Prinzipien, bevor sie rein rational handeln. Es liegt in unserer Natur soziale Strukturen zu bilden und die dafür nötigen Wertemuster haben wir über Jahrhunderte verinnerlicht und handeln danach. Die Idee ohne zentrale Steuerung bräche Anarchie im Unternehmen aus, ist daher oft eine irrationale Angst. Das Gegenteil ist der Fall.

Bedarf schafft Struktur

Ein schönes Beispiel hierfür sind die südafrikanischen Stokvels. Dort, wo Anlagen und Kredite über eine Bank nicht möglich oder lohnend sind, schließen sich oft zwölf oder mehr Menschen zusammen, zahlen monatlich in einen Pott ein und zahlen die Summe monatlich rotierend einem der Mitglieder zur freien Verwendung aus. So wird ein zinsloses Darlehen geschaffen und die Kaufkraft des einzelnen kurzfristig für wichtige, aber zu teure Anschaffungen erhöht. Die einzige Bedingung: In den folgenden elf Monaten gilt es weiter denselben Betrag einzuzahlen. Wenn jemand nicht zahlt, wissen das alle. Betrugsfälle sind selten – eingezahlt wird in der Regel verlässlich. So entstehen in alltäglichen Situationen stabile Strukturen ganz von allein – nur durch den Bedarf angetrieben. In klassischen Unternehmensstrukturen werden solche Prozesse oft verhindert. Sie erschweren es ihren Mitgliedern, ihrem natürlichen Impuls zu folgen, sinnvoll schöpferisch aktiv zu werden – also letztlich selbstorganisiert Erfolgsmuster zu bilden. Forschung zum Verlust internaler Motivation bei externalen Anreizen und viele andere zeigen das.

Digitale Werkzeuge inklusive

Selbstorganisation ist der Weg und das Ziel einer sich verändernden Wirtschaft und Arbeitswelt. Ein Weg hin zu neuen Standards und Strukturen. Ein aufregender Weg hin zu einer größeren Freiheit. Diese Freiheit bedeutet auch mehr Verantwortung. Verantwortung, neue Erfolgsmuster zu finden und in einen stabilen Zustand zu überführen. Dafür brauchen wir wieder mehr Räume für Selbstorganisation, in denen experimentiert werden kann. Diese Räume zu schaffen, damit Anpassungen der Organisation natürlicher und dynamischer, entlang der real entstehenden Bedarfe geschehen, ist aus meiner Sicht das ultimative Ziel. So wird die Struktur der Zukunft vielleicht keine Struktur mehr sein, sondern ein Geflecht bestimmter Kommunikationsmuster, die sich fortlaufend an neue Situationen anpassen und dennoch gewisse Stabilität und Identität vermitteln. Glücklicherweise bringt die Digitalisierung selbst bereits viele Mittel für diese neue Art der Kommunikation und die damit verbundene Selbstorganisation mit sich: Social Media in Unternehmen ist längst ein Thema. Egal ob Enterprise Social Networks, Blogs oder hochintegrierte Kommunikationslösungen, digitale Werkzeuge für mehr Selbstorganisation gibt es viele. Jetzt heißt es, diese auch zu nutzen.

5 Tipps wie Sie Selbstorganisation und Digitalisierung zusammenbringen

  1. Akzeptieren Sie Komplexität und Digitalisierung als etwas das gewollt ist – kein Unwetter. Versuchen Sie nicht, es auszusitzen, sondern nutzen Sie aktiv das, was Ihnen nützlich erscheint.
  2. Versuchen Sie nicht Digitalisierung zu verstehen, sondern Ihr Business: Welche Art Unternehmen wollen Sie für Ihre Kunden sein, wie verändern sich deren Erwartungen an Sie und wie kann aktuelle Technik Ihnen dabei helfen, diesen Erwartungen gerecht zu werden und Ihre Kunden wieder zu begeistern?
  3. Führen Sie keine großen ‚agilen Modelle‘ ein, wenn Sie nur kleine Veränderungen wollen – die kleinen und kontinuierlichen Änderungen führen oft zu den größeren Ergebnissen.
  4. Arbeiten Sie mit kreativen Regelbrechern, mit Menschen, die nicht mehr vom Bestehenden reproduzieren wollen, sondern neue Muster und ungewohnte Verbindungen schaffen – über die Grenzen der ihnen bekannten Themen hinaus.
  5. Experimentieren Sie und experimentieren Sie viel! Kreieren Sie erstmal 20 verrückte Prototypen, bevor Sie den einen ‚perfekten‘ Prototypen auswählen, den Sie dann weiterentwickeln. Perfekt ist ein Prototyp dann, wenn er diese fortlaufende Weiterentwicklung ermöglicht.

*Politisch korrekt ist es wahrscheinlich, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass nicht einer speziesistischen Argumentation gefolgt wird. Auch hier gewinnt unsere Gesellschaft an Komplexität.

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Detlev Trapp ist Gründer und Gesellschafter von cidpartners.

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